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02 | Eine neue Mobilitätskultur in der Stadt

Mag. Andreas Rauter, Verkehrsexperte der Stadt Wien, über Chancen und Perspektiven einer neuen Mobilitätskultur in den urbanen Zentren.

Städte sind der Motor wirtschaftlicher Entwicklung Europas. Sie ziehen Arbeit und Investitionen an. Ihre Bedeutung steigt mit der Zunahme des Dienstleistungssektors. Mobilität schafft dabei die Grundlagen für gesellschaftliche Entwicklung und wirtschaftliche Aktivitäten.

LEBENSQUALITÄT

Es liegt in der Verantwortung der Städte, die Mobilität ihrer Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen und den städtischen Verkehr so zu organisieren, dass eine hohe Lebensqualität in der Stadt garantiert werden kann. Nicht zu übersehen ist allerdings die Tatsache, dass vor allem der motorisierte Individualverkehr negative Auswirkungen auf Mensch und Umwelt hat, die sich bei der Kompaktheit europäischer Städte noch verstärken: Abgase, Lärm und Unfälle.

Mag. Andreas Rauter, Referat Verkehrsplanung & Mobilitätsstrategien Wien ©echo/Schedlin|traffic im Gespräch mit:
Mag. Andreas Rauter
Mitarbeiter im Referat Verkehrsplanung & Mobilitätsstrategien
Magistratsabteilung 18, Stadt Wien

Die Konzentration wirtschaftlicher Aktivitäten auf urbane Ballungsräume – immerhin leben 80 % der Europäerinnen und Europäer in Städten – führt zu einer Zunahme des Verkehrsaufkommens und damit auch zu mehr Belastungen für Mensch und Umwelt. Verkehrspolitisches Ziel muss es deshalb sein, eine Balance zu finden zwischen der Sicherstellung der Erreichbarkeit einerseits und den Bedürfnissen der Menschen andererseits.

DIE NEGATIVEN SEITEN DES VERKEHRS

Die Zunahme des Verkehrs in den Städten führt aber zu Staus und somit zu Verstopfung mit zahlreichen negativen Auswirkungen: Zeitverlust, Umweltverschmutzung, Abgase – enorme externe Kosten, für die die Gesellschaft aufkommen muss. Auch die Zahl der Verkehrsunfälle in den Städten ist besorgniserregend – besonders betroffen sind hier die FußgängerInnen und RadfahrerInnen als die am meisten verletzbaren Verkehrsteilnehmer. Die negativen Auswirkungen des Verkehrs bewirken weitere negative Effekte, nämlich Klimawandel und Gesundheitsprobleme.

All diese Probleme betreffen alle europäischen Städte – wenn auch oft in unterschiedlicher Weise. Denn es gilt, die anderen Rahmenbedingungen zu beachten. Unterschiede in der Einwohnerzahl, Bevölkerungsdichte, geografischen Lage, in der Topografie, am Arbeitsmarkt, im Sozialsystem, in der Bildung, in der Wirtschaftskraft usw. Was aber nicht verleugnet werden kann, ist die Tatsache, dass gemeinsame Anstrengungen erforderlich sind, um diese Probleme nachhaltig lösen zu können.

Anders gefragt: Wurde jemals behauptet, dass Städte autogerecht sein müssen? Ginge das bei der Kompaktheit und Dichte europäischer Städte überhaupt?

Es liegt deshalb auf der Hand, die Alternativen zum eigenen PKW in der Stadt zu fördern, den Umweltverbund: öffentlichen Verkehr, Radverkehr und FußgängerInnen. Diese Mobilitätsformen eignen sich wegen der kurzen Wege in einer Stadt besonders gut. Verantwortungsvolle Verkehrspolitik setzt deshalb auf den Umweltverbund, dessen Anteil es zu steigern gilt.

BEISPIEL WIEN

Mit dem Masterplan Verkehr Wien 2003 (MPV 03) wurde die Forcierung des Umweltverbundverkehrs vom Wiener Gemeinderat beschlossen. Ziel ist es, den Anteil des öffentlichen Verkehrs bis 2020 auf 40 % zu steigern, während der Anteil des motorisierten Individualverkehrs auf 25% reduziert werden soll. Im Jahre 2020 sollen dann drei Viertel aller Wege in der Stadt mit dem Umweltverbund zurückgelegt werden.

Öffentlicher Nahverkehr - Mobilität in der Stadt ©VOR

Die Ziele des Masterplans sollen – dem Leitbild einer intelligenten Mobilität folgend – durch verschiedene Maßnahmen erreicht werden. So sollen Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung zu einer verantwortungsvolleren Verkehrsmittelwahl bei der Bevölkerung führen. Das proaktive Anbieten von attraktiven Alternativen zum eigenen PKW soll die erforderlichen Änderungen beim Verkehrsverhalten positiv beeinflussen und einen Modal Shift hin zum Umweltverbund ermöglichen. Ziel ist die Optimierung des Gesamtsystems, wozu auch ein funktionierendes Schnittstellenmanagement mit dem Einsatz moderner Technologien (Stichwort Telematik) beiträgt.

Konkret bedeutet das für Wien die Sicherstellung eines leistungsfähigen und zuverlässigen öffentlichen Verkehrssystems – in Wien durch die Wiener Linien als kommunales integriertes Verkehrsunternehmen. Steigende Fahrgastzahlen sowie ein markant verbesserter Kundenzufriedenheitsgrad beweisen, dass auch nicht für den Wettbewerb geöffnete Märkte ein optimales Ergebnis liefern können. Diese Tatsache wurde schließlich auch in der am 3. Dezember 2007 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten Verordnung über öffentliche Verkehrsdienste auf Straße und Schiene nach intensivem Lobbying berücksichtigt, indem die kommunale Wahlfreiheit rechtlich verankert wurde.

Ein paar Zahlen zum Erfolg des „Wiener Modells“: Seit dem Vorjahr beträgt der Anteil des ÖV 35 % (1993 noch 29 %) und hat damit den Anteil des MIV mit 34 % (1993 noch 40 %) überholt.

Einen weiteren wesentlichen Bestandteil für den Erfolg der Wiener Mobilitätspolitik stellt die Schaffung eines attraktiven Umfelds für den Radverkehr dar, durch den Ausbau des Radwegenetzes, die Verbesserung der Sicherheit oder das Citybike. Ziel ist die Verdoppelung des Radverkehrsanteils.

In der Diskussion wird oft auf die Fußgängerinnen und Fußgänger vergessen. Dabei geht es nicht nur um Fragen der Verkehrssicherheit, sondern auch um die Verbesserung der Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum generell.

WAS MACHT EUROPA?

Im Zuge der Halbzeitrevision des Weißbuchs Verkehr aus dem Jahre 2001 mit dem Titel „European Transport Policy for 2010 – time to decide“, die im Frühjahr 2006 durchgeführt und Ende Juni 2006 veröffentlicht wurde, wurde von der Europäischen Kommission angekündigt, ein eigenes Grünbuch zum städtischen Verkehr verfassen zu wollen. Dieses wurde nach einem umfangreichen Konsultationsprozess mit Einbindung der relevanten Stakeholder am 25. September 2007 präsentiert und trägt den Titel „Hin zu einer neuen Kultur der Mobilität in der Stadt“.

Es ist das erklärte Ziel der Europäischen Kommission, mit dem Grünbuch einen Rahmen zu schaffen, der Lösungen ermöglicht und sie nicht aufzwingt. Von der Kommission kam auch das Eingeständnis, dass das Thema urbane Mobilität in der Vergangenheit nicht als eigener Themenbereich diskutiert wurde, sondern bloß als Teilaspekt in den Bereichen Umwelt, Regionalpolitik, Forschung, Binnenmarkt und Wettbewerb. Mit dem Grünbuch soll es nun gelingen, eine kohärente Politik in diesem Bereich zu formulieren. Aus Sicht der Europäischen Kommission stellt sich die Frage, wie ein Spielraum für lokale Gebietskörperschaften geschaffen bzw. gesichert werden kann, der ihnen ermöglicht, sich – wie es ein hochrangiger Kommissionsbeamter formuliert hat – zu „Inseln der nachhaltigen Mobilität“ zu entwickeln. Jede Stadt soll so ihre Eigenheit im positiven Sinne bewahren können. Denn gerade diese Vielfalt ist es, die die europäischen Städte so attraktiv macht. Deshalb wird auch die bessere Position der Städte bei der Umsetzung der Maßnahmen akzeptiert, da die Städte ja jener „Level of Governance“ sind, der am nächsten bei den Bürgerinnen und Bürgern ist.

Im Zusammenhang mit der Schaffung einer neuen Mobilitätskultur wird die Rolle der Europäischen Union beim partnerschaftlichen Eruieren gesehen, ob es Hindernisse gibt, die gemeinsame Lösungen verhindern. Der europäische Mehrwert liegt dabei im Bereich des Austauschs bewährter Praktiken, der Interoperabilität, der finanziellen Unterstützung sowie der Vereinfachung bestehender Rechtsvorschriften. Vielfach ist während des Konsultationsprozesses zutage getreten, dass oft die nationale Ebene ein Hindernis bei der Umsetzung sinnvoller und in anderen Städten erfolgreicher Maßnahmen ist.

Zusammenfassend: Ziel der Europäischen Kommission ist es nicht, Lösungen aufzuzwingen, sondern Lösungen zu ermöglichen. Ein Ansatz, der den Städten zu gefallen scheint. Was das Grünbuch jedenfalls bewirken soll, ist das Auslösen weiterer Diskussionen, die dann im Laufe des Jahres 2008 in einem Aktionsplan zusammengefasst werden.

HERAUSFORDERUNGEN

Im Grünbuch selbst werden fünf zentrale Herausforderungen dargestellt:

  1. Hin zu einem flüssigen Verkehr in der Stadt: Staus in den Städten sind zum Problem geworden. Alternativen zur Benutzung des privaten PKW sollen attraktiver und sicherer gemacht werden. Die Menschen sollen in der Lage sein, ihre Fahrten dank effizienter Verknüpfung der verschiedenen Verkehrsträger zu optimieren. Dazu bedarf es auch einer angemessenen Parkraumpolitik, die als wirtschaftliches Instrument genutzt werden kann.
  2. Hin zu grüneren Städten: Die größten Umweltprobleme hängen damit zusammen, dass die Kraftstoffe für den Verkehr im Wesentlichen aus Öl gewonnen werden, dessen Verbrennung CO2, Luftschadstoffe und Lärm erzeugt. Trotz der Fortschritte im Bereich sauberer Antriebstechnologien sind die Städte wegen des zunehmenden Verkehrsaufkommens eine Quelle hoher Schadstoffemissionen, die zum Klimawandel beitragen. Die Europäische Kommission will deshalb neue Technologien fördern, die zu einer Reduktion der Umweltbelastung beitragen. Unterstützt soll dies durch eine gemeinsame, umweltbewusste Beschaffung von Fahrzeugen im Bereich der öffentlichen Fahrzeugflotten werden, um hier den Markt zu stimulieren. Nicht zu vergessen ist aber auch der Vorteil, den elektrisch angetriebene S-Bahnen, U-Bahnen, Straßenbahnen und O-Busse in puncto Schadstoffemissionen bieten.
  3. Hin zu einem intelligenteren Nahverkehr: Die Städte sind mit einer Zunahme des Verkehrsaufkommens konfrontiert. Der Ausbau der Infrastruktur stößt jedoch an Grenzen. Ziel ist es, durch eine intelligente Steuerung des Verkehrs die vorhandene Infrastruktur optimal auszunutzen. Beispiele dafür wären intelligente Gebührensysteme sowie bessere, verkehrsträgerübergreifende Informationen für eine bessere Mobilität.
  4. Hin zu einem zugänglichen Nahverkehr: Die Zugänglichkeit betrifft in erster Linie Personen mit eingeschränkter Mobilität, Behinderte, ältere Menschen, Familien mit kleinen Kindern oder Kinder selbst: Sie müssen komfortabel Zugang zur städtischen Verkehrsinfrastruktur erhalten. Die Optionen in diesem Bereich: ein öffentlicher Verkehr, der den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger entspricht, auf einem geeigneten europäischen Rechtsrahmen aufbauend, mittels innovativer Lösungen und geeigneter Fähigkeiten, mit ausgeglichener Koordinierung der Flächennutzung und einem integrierten Ansatz für die Mobilität in der Stadt.
  5. Hin zu einem sicheren Nahverkehr: Alle Menschen sollen in den Städten sicher leben und sich dort sicher bewegen können. Ziel ist es, die Zahl der bei Verkehrsunfällen getöteten oder verletzten Menschen zumindest zu halbieren. Dazu beitragen können sicheres Verhalten der VerkehrsteilnehmerInnen, sichere Infrastrukturen sowie sichere Fahrzeuge.

SCHAFFUNG EINER NEUEN KULTUR DER MOBILITÄT IN DER STADT

Der Konsultationsprozess hat gezeigt, dass es zur Schaffung einer neuen „Kultur der Mobilität in der Stadt“ in Europa nötig ist, Partnerschaften einzurichten. Neue Planungsmethoden und Planungsinstrumente können ebenfalls eine wichtige Rolle für diese neue Kultur der Mobilität in der Stadt spielen. Die Europäische Union könnte hier als Vermittlerin und Koordinatorin von gemeinsamen Initiativen der Städte auftreten. Von der Europäischen Kommission wird auch die Schaffung eines „Observatory on Urban Mobility“ vorgeschlagen, das entscheidungsrelevante Daten erheben und sammeln soll. Zu guter Letzt stellt sich natürlich auch die Frage nach der Finanzierung. Möglichkeiten gibt es hier viele: Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), Kohäsionsfonds, die Europäische Investitionsbank (EIB), das 7. Rahmenprogramm für Forschung und technologische Entwicklung, CIVITAS, … Genutzt müssen diese halt werden. Hier ist eben Kreativität beim Entwickeln von Projekten gefragt.

DIE NÄCHSTEN SCHRITTE

Im Grünbuch selbst werden zu den einzelnen Kapiteln konkrete Fragen, vor allem über den europäischen Mehrwert dieser Diskussion gestellt, die im Rahmen eines weiteren Konsultationsprozesses bis 15. März 2008 beantwortet werden können. Auf Basis der weiteren Diskussion soll von der Europäischen Kommission bis Herbst 2008 ein Aktionsplan vorgelegt werden.

Trotz der grundsätzlich positiv zu bewertenden Initiative der Europäischen Kommission zur Schaffung einer neuen Mobilitätskultur in den Städten darf eines nicht vergessen werden: Die Verantwortung für die Umsetzung der entsprechenden Maßnahmen liegt – dem Subsidiaritätsprinzip folgend – bei den Städten.

Die Städte sind es auch, die die einzelnen – für die jeweilige Stadt maßgeschneiderten – Lösungen entwickeln.